In dieser Ausstellung trifft das Kunstschaffen von Sadhyo Niederberger (*1962, lebt in Aarau) und Bettina Carl (*1968, lebt in Zürich) zum ersten Mal zusammen. Beiden gemeinsam ist eine experimentelle Arbeitsweise, die aus der Praxis des Zeichnens zu stammen scheint, welche die Befragung des „Malgrunds” und der künstlerischen Mittel umfasst und in der Konsequenz dessen eine Erweiterung des Bildes weit über ein Blatt hinaus bewirkt. Ebenfalls gemeinsam ist die stetige Befragung des Menschen, also dessen Körpers, seiner Art sowie der von ihm entwickelten Gesellschaft. Dazu bieten sie keine Antworten, sondern Anregungen und Fragen, die in ihren Kunstwerken versteckt sind.
Die aktuelle Jahreszeit passt perfekt zur Darbietung dieser Ausstellung. Wie bei einem herbstlichen Baum, der langsam seine Blätter verliert, wird in den oberen Stockwerken das karge, aber unerlässliche Gerüst sichtbar. Nur noch wenige Farbtupfer zeugen von der Fülle des Sommers. Die Farben, vielfältiger als zuvor, sind mit den grossen Blättern nach unten gefallen. Nun kann die reiche Ernte eingefahren werden. Viele Kunstwerke der Ausstellung sind neu aus diesem Jahr, jedoch bieten einige ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre. War vor 2020 nicht eine ganz andere Zeit? Hat sich unsere Wahrnehmung der Welt seither verändert?
Dass sich diese verändern kann, zeigt Bettina Carls Bild „Drahtmutter” auf. Dieses bezieht sich auf Experimente des US-Verhaltensforschers Harry Harlow in den 1950er Jahren mit isoliert geborenen Rhesusaffen-Babys. Mittels einer grotesken, aus Drahtgitter gebauten, aber milchgebenden „Drahtmutter” und einer zweiten, eher niedlichen, lediglich aus beheizten Lappen gebauten „Stoffmutter” konnte er beweisen, dass Nahrung allein den Äffchen nicht genügt, sondern Zuwendung elementar ist. Trotz Hunger klammerten sich diese deutlich und dauerhaft an die weiche Figur. Mit der Erkenntnis aus diesem Versuch und noch weit grausameren stellte er die damaligen Erziehungsideale auf den Kopf. Damals war die Meinung, dass allein schon genug Essen für die Entwicklung von Kindern ausreichend wäre. Er selbst war sich aber der Grenzen der Erkenntnis aus dieser Versuchsanordnung bewusst, mit dem Kommentar, dass die weiche Puppe „einen sozialen IQ von null hat” und folglich ihrem Nachwuchs nicht vorleben kann, wie Freundschaften aufgebaut werden können.
Zu Bettina Carls Bildern bietet der Titel jeweils einen Schlüssel: Diese „Mutterfigur” lässt sich im Bild erkennen, worauf sich in der Folge immer weitere Formen zeigen. Aufgrund des Wissens, dass die Künstlerin früher eine begeisterte Aktzeichnerin war, lassen scheinbar zufällige hingeworfene Linien z.B. eine Schulterpartie oder eine Hüfte erscheinen und Zacken können fraglos Gebirgssilhouetten sein. Folglich kann die Fantasie der Betrachtenden vor den vermeintlich gegenstandslosen Bildkompositionen durchaus mit der Intention der Zeichnerin übereinstimmen.
Noch weiter zurück in die Menschheitsgeschichte reichen Sadhyo Niederbergers Referenzen, namentlich bei der Reihe „Gnossiennes”, eine Wortschöpfung des französischen Pianisten Erik Satie (1866–1925) für eine Reihe seiner Klavierstücke. Seine Kompositionen bestechen durch Einfachheit und Klarheit, zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass Satie sie ohne Taktangaben notierte und den Interpreten somit einigen Spielraum liess – womit er womöglich den perfekten Soundtrack zu dieser Ausstellung geschaffen hat.
Ein Bild scheint jedoch noch einen früheren Bezug herzustellen: „Refugee” zeigt die aus zerlegten Kleiderstücken gekordelte Silhouette eines Flüchtenden auf einer Wolldecke. Die Wolldecke als absolutes menschliches Minimalmass: Damit eingehüllt kann das letzte winzige Stück Heimat in der kalten Nacht behauptet werden.
Dies steht im Gegensatz zu Leonardo da Vincis vitruvianischem Menschen. Diese Zeichnung zeigt einen Mann, der mit der maximalen Ausdehnung der Gliedmassen seinen Raum in alle Richtungen selbstbewusst beansprucht. Dies war der Start für ein halbes Jahrtausend Anstieg humanistischer Ideale, bis sie heute zu stagnieren scheinen, wie die benachbarte Arbeit „Banned Words 2025” zeigt. Sie präsentiert Begriffe, deren Gebrauch die aktuelle US-Regierung offiziell verboten hat. Ist ein Redeverbot nicht gleichzeitig ein Denkverbot? Denken wir nicht in Worten und allenfalls in Zahlen? Houston, haben wir ein Problem?
Falls diese These stimmt, dass wir in Worten denken, dann darf auch festgestellt werden, dass wir in Bildern träumen!
Deshalb sind Kunstausstellungen wie diese so wichtig.
Nicht, weil die Kunstschaffenden Lösungen für irgendwelche Fragen anbieten. Sondern weil sie den Finger genau da hinlegen können, wo es wehtun soll – auch wenn wir uns dieser Wunde noch gar nicht bewusst sind.